„Wir brauchen eine selbstbewusste Arbeitsmedizin!“

Drei Stipendiatinnen über das Glück, als Ärztin im Betrieb zu sein

Die eine absolviert gerade ihr Praktisches Jahr, die andere eine Facharztausbildung, die dritte arbeitet und promoviert bei einem überbetrieblichen, arbeitsmedizinischen Dienst: Lisa Franziska Hermes (26), Michaela Maria Arnold (37) und Ulrike Kleinecke (36), eine Medizinstudentin und zwei Ärztinnen, die über ein Stipendium des Aktionsbündnisses gefördert wurden – und darüber ihre Faszination für das Fachgebiet „Arbeitsmedizin“ entdeckten oder vertieften.

Frau Hermes, Frau Kleinecke, Frau Arnold: Sie haben entweder für die Famulatur oder die Promotion ein Stipendium des Aktionsbündnisses in Anspruch genommen. Was begeistert sie an der Arbeitsmedizin?

Ulrike Kleinecke, seit 2016 als Arbeitsmedizinerin bei einem überbetrieblichen Dienst tätig, gefördert über ein Promotionsstipendium: Sie ist so ungeheuer vielfältig! Über meinen Arbeitgeber bin ich in Krankenhäusern, in Schulen und Kitas, auf Baustellen und in der Stadtverwaltung, bei Energieversorgern und Logistikunternehmen unterwegs. Überall warten andere Herausforderungen, andere Menschen, Fragen, Lösungen.

Lisa Franziska Hermes (Foto: © privat)

Lisa Franziska Hermes, zurzeit im Praktischen Jahr, über das Promotionsstipendium gefördert: Ich habe meine Famulatur beim Hanseatischen Zentrum für Arbeitsmedizin (HANZA) absolviert. Das war total spannend und abwechslungsreich: die Vielschichtigkeit, die verschiedenen Kollegen, die unterschiedlichen Betriebe.

Michaela Maria Arnold, zurzeit in Weiterbildung in einer Allgemeinpraxis: Ich wollte in etwas Neues hineinschnuppern. Inneres und Chirurgie kannte ich bereits, in Kliniken und Praxen hatte ich gearbeitet. Und dann war alles komplett anders: die Welten, Menschen, Lebens- und Arbeitsfelder! Wir haben zum Beispiel eine große Fabrik besucht. In meinem ganzen Leben war ich noch in keiner Fabrik. Das hat meinen Horizont absolut erweitert! Ich war aber auch geschockt, unter welchen Bedingungen Menschen arbeiten, am Fließband etwa, unter starker Lärm- und Geruchsbelästigung. Man bekommt eine ganz neue Wertschätzung dafür, was andere Menschen in ihren Jobs leisten. Das ist schon was anderes als der Mikrokosmos Gesundheit in Praxis und Klinik.

Inwieweit hat Ihnen das Stipendium bei Ihrer Ausbildung geholfen?

Kleinecke: Ich finanziere damit Teile für meine Doktorarbeit. Ich bin bereits Fachärztin für Innere Medizin und Arbeitsmedizin, aber gerade in der Arbeitsmedizin, bei großen Unternehmen, ist es von besonderer Bedeutung, auch einen „Dr. med.“ vor dem Namen zu tragen. In dem Zusammenhang möchte mich sehr herzlich beim Aktionsbündnis für die Unterstützung bedanken. Ich werde das jedem weiterempfehlen: Das ist ungeheuer hilfreich!

Arnold: Als Studierende ist man ja immer auf Unterstützung angewiesen. Wenn man das Fachgebiet Arbeitsmedizin sowieso schon für sich entdeckt hat, können 300 Euro für die vierwöchige Famulatur oder 300 Euro zwölf Monate lang für die Promotion den letzten Anschubs geben.

Was müssen angehende Arbeitsmediziner an Kompetenzen mitbringen?

Ulrike Kleinecke (Foto: © privat)

Kleinecke: Wer nur an einem Platz sein will – in der Klinik oder Praxis – für den ist die Tätigkeit nichts: Als Arbeitsmediziner ist man nur glaubhaft, wenn man die Leute an ihrem Arbeitsplatz besucht, selbst mal eine schwere Kiste hebt oder sich nach einem oberen Lagerregal streckt. Man muss das mögen, auf Baustellen zu sein oder in Produktionsanlagen. Man muss vor Ort sein, damit man Risiken und Belastungen einschätzen kann und authentisch und glaubhaft Beschäftigte und Arbeitgeber beraten kann. Und: Man muss oft und viel Auto fahren. Wir betreuen verschiedene Unternehmen im Großraum Leipzig. Der Radius reicht dabei bis Halle und teilweise weit darüber hinaus. Da muss man sich auf den Weg machen. Ohne Führerschein und der Bereitschaft, viel Auto zu fahren, geht da nichts.

Wie kann die Arbeitsmedizin für Studierende attraktiver gemacht werden?

Arnold: Die Arbeitsmediziner sollten ihr Fach viel selbstbewusster vertreten! Bei kollegialen Gesprächen bekam ich oft den Tipp, erst mal einen anderen Facharzt zu machen und danach in die Arbeitsmedizin zu gehen. Das klingt, als gäbe es Fachärzte „zweiter Klasse“. Dabei gibt es über vierzig verschiedene Fachgebiete. Und die Arbeitsmedizin ist eines davon. Wieso hat das nicht den gleichen Rang wie all die anderen?

Hermes: Gut wäre auch, Blockpraktika anzubieten so wie in der Chirurgie. Man kann in der Arbeitsmedizin kein Schnupperpraktikum machen. Das würde aber sehr helfen, um sich einen persönlichen Eindruck machen zu können.

Kleinecke: Ich würde mit den Studierenden immer in die Betriebe gehen. Man muss ihnen in der Praxis zeigen, wie Betriebsärzte arbeiten, was sie vor Ort bewirken können. Wenn das Fachgebiet nur auf der Schulbank stattfindet, ist es einfach zu trocken.

Michaela Maria Arnold (Foto: © privat)

Arnold: Und sie sollte nicht ständig von ihren Defiziten reden, sondern von ihren Kompetenzen. Ständig wird einem erzählt, was die Arbeitsmedizin alles NICHT ist. Dabei gibt es so viele spannende und wichtige Themen! Alleine die Zunahme der psychischen Belastung am Arbeitsplatz. Das wird grandios unterschätzt. In meinem momentanen Berufsalltag in der Hausarztpraxis muss ich so häufig Leute krankschreiben, die unter Mobbing, Überlastung und anderen Problemen an ihrem Arbeitsplatz leiden. Da frage ich mich: Wie könnte man den Arbeitsalltag verändern, um solche Situationen zu vermeiden? Was könnte der Betriebsarzt tun? Wir brauchen engagierte Arbeitsmediziner und Arbeitsmedizinerinnen, die sich für die Menschen, aber auch für die Unternehmen einsetzen und sich vielleicht auch mal den Chef schnappen, um beiden zu helfen.